Silberring
Auf einem Silberring liegt in Zirbe eingefasst ein Ceylon Mondstein. Metall, Holz und Stein. Das Objekt zeugt von einem Gestaltungsprozess; im Innen und Außen. Faltungen. Häutungen. Windungen. Getrieben von einer Suche. Nach Worten, nach Formen, nach Leben. Mit dem Geschriebenen begebe ich mich – in Konfrontation mit minotaurusartigen Gestalten – hinein in ein labyrinthisches Gefilde. Mantren rezitierend erforscht mein Selbst ein ozeanisches Gefühl, widersetzt sich als moderner Prometheus an den Fels gekettet zu werden, wo sich ein Adler an meiner Leber labt. Ein Adler, der – wie Byung-Chul Han pointiert bemerkt – als Figur der Selbstausbeutung zu begreifen ist. Wie Han bin ich der Müdigkeitsgesellschaft müde. Dabei heftet sich mein Begehren zwischen die Zeilen. Ein Begehren, das sich ebenso an der Betrachtung von Steinen, dem Duft von Zirbe, den Farben von Safran und am Schwung eines fein gehämmerten Silberreifs erfreut. Oder sich an Zärtlichkeiten entfacht, mit denen Fingerspitzen sanft über Stirn, Wangen und Kinn hinunter bis zur Brust und Beckenhöhle gleiten. Ein pulsierendes Organ regt sich danach von Flüssigkeit umspült zu werden. Diesem Begehren genügt das Ego nicht. Es züngelt nach meer, stürzt sich in Wellen, tanzt auf ihren Wogen. Ich begebe mich hinein in die Fragen um ein Skript für das, was sein könnte, lasse mich treiben, nehme mit lateralem Fokus meine Umgebung wahr, beginne mit den Augen zu riechen, mit den Ohren zu schmecken und der Nase zu hören. Die Stimme versagt dabei.
Ein Ring. Seine Basis ist Silber, nach Aristoteles die causa materialis, der Urstoff des Seienden, die prima materia, die in der mittelalterlichen Alchemie dem weiblichen Element der Luna zugeordnet wurde. Luna, der Mond, das Gestirn, nach dem der Stein benannt ist, der auf meinem Finger in einer hölzernen Schale eingebettet ruht und dem Ring seine Form verleiht. Vielleicht vermag der Mondstein Luna’s intuitive Kraft bestärken. Zumindest lässt sich dieser Mythos in esoterischen Schriften finden. Konkret gewendet: Mit der Entstehung dieses Rings geht einher, Ingredienzien von Intensitäten zu erforschen, einzusammeln wie Pilze, die unverhofft in feuchtem Waldboden aufsprießen. Eros und Melancholia flechten sich in dieses Gedankenmyzel und deren Erlebniswelten hinein. Beide Gespielinnen trotzen aberwitziger Verwertungslogik, winden sich mit Gaia hinein in die Un/Muße des Lebendigen, schwingen sich mit Monarchbutterflys zartbeflügelt über ausgezehrte Kontinente und schreiben mit Banu Subramaniam Ghost Stories for Darwin weiter.
Duft der Zeit
Die Epoche der Hast hat aber keine Zeit, die Wahrnehmung zu vertiefen. Allein in der Tiefe des Seins tut sich ein Raum auf, wo alle Dinge sich anschmiegen und miteinander kommunizieren. Gerade diese Freundschaft des Seins lässt die Welt duften.
Byung-Chul Han
Auf die Suche nach dem Duft der Zeit begebe ich mich. Zeichnet sich menschliches Dasein nicht gerade dadurch aus, dass es Präsenz erfährt? Wenn wir das Da-Sein spüren? Dann verlieren wir uns weder im Eskapismus des zukünftig Imaginierten noch in der Wiederkehr des Immergleichen. Eros entfaltet seinen Duft durch die Intensität seiner unmittelbaren Präsenz. Im Sinne Byung-Chul Han heißt das, sich der Dischronie zu widersetzen. In Duft der Zeit diagnostiziert er die Dischronie als zeitgenössisches Problem.
Zeit würden wir als richtungslos erleben, schwirrend, es gäbe keine Erfahrungen von Dauer, nur Aneinanderreihungen von Ereignissen. Wie lässt sich Eros – als eine Form der Freundschaft des Seins, die die Welt duften lässt – weder zähmen, noch warenförmig verunstalten? Sich einlassen auf einen anderen ist die Basis für jede Form liebender Hingabe. Es bedarf der Zeit, Behutsamkeit und des Willens sich ebenfalls mit den widerständigen Seiten seiner selbst und des anderen, sich mit gewohnten Mustern auseinanderzusetzen. Sich einzulassen lockt die menschliche Bequemlichkeit aus der Reserve. Zumeist verengt diese unseren Fokus. Sich in Beziehungsgeflechten auszudehnen, kann das Flüchtige oder die hohe Kunst des Dialogs bestärken. Letzteres verhilft dem menschlichen Dasein, sich in der Mannigfaltigkeit und in voller Präsenz auszugestalten, Wahrnehmung zu vertiefen. Chronos, die Zeit, wird dann als Kairos erfahren. Kairos ist die Zeit, die nicht einfach nur vergeht. Kairos stellt den günstigen Zeitpunkt dafür dar, sich zu entscheiden für das, was ist, entgegen dem, was war noch was sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt bildet sich die Klarheit einer Entscheidung für das eine und nicht das andere heraus. Diese Klarheit lässt Erfahrungen reifen, meidet ermüdende Ereignisrotationen und entrinnt missachtenden Verdinglichungsprozessen. Momente des Kairos sind nicht beliebig. Sie ermöglichen, dass die Sorge um das selbst und um andere gedeiht, lassen das Ich fluide werden im Hier und Jetzt, verdichten es als Knotenpunkt im Augenblick, verweben es mit anderen Gegenüber, – berauscht vom Rhythmus sich gemeinsam aufeinander einstimmender Eigenzeit.
Vogelbach, 2020