Vom Ernten

Auf meinen Herbstspaziergängen verwundern mich die braunverfaulenden Äpfel, die sich über das Gras als matschiger Teppich legen. Wespen schwirren darüber. Dabei denke ich an das eingemachte Obst meiner Großmutter, das reihenweise im Keller ihrer Mietwohnung auf Regalböden zu finden war. Es ließ Jahresrhythmen in Gläsern sichtbar werden. – Wir investieren, kalkulieren und beuten aus, nicht zu letzt uns selbst, aber wir ernten nicht.

Diese Zeilen schreibe ich während sich das Laub verfärbt, die Hänge obergine, organe und bordeauxrot leuchten. Es ist eine Zeit, in der Äste von der Last ihrer sonnengereiften Früchte hinuntergebrochen sind, sich Risse durch den nach Regen lechzenden Boden gezogen, sich blaugrüne Mosaikjungfern und Streifenwanzen allenthalben zwischen Fensterritzen ausgebreitet haben. Dabei sehe ich dem sich darin näherrückenden Desaster entgegen. I’m staying with the trouble , gemeinsam mit Donna Haraway, die darüber ein Buch verfasste, das mit Unruhig bleiben ins Deutsche übersetzt wurde. In die Windungen des Lebens bewege ich mich hinein, gehe dem nach, was welkt, abstirbt und dem, was sich in Einmachgläsern sammeln lässt, fülle sie mit Begegnungen, Erinnerungen, Resonanzen und unerfüllten Sehnsüchten.

Dem Verlust der Leichtigkeit des Seins geselle ich den Genuss eines eigenwilligen Archivs bei. Prall mit Trotz fülle ich den Keller meines Selbst. Manch‘ bitterer Geschmack lässt sich dabei nicht vermeiden. Doch umso süßer schmecken die vollends reifen Früchte. Ernten möchte ich und säen, möchte Vielfalt gedeihen sehen, aus dem Vollen schöpfen und dem Einerlei die Stirn bieten. Anfangen werde ich trotz Beschnitt, trotz Widrigkeiten. Anfangen,– trotzdem. 

Vogelbach, September 2020